EuGH zum Ort der Klage bei Verleumdung einer Gesellschaft im Internet
Nach Ansicht von Generalanwalt Bobek kann eine Gesellschaft, die eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte durch die Veröffentlichung von Angaben im Internet behauptet, hinsichtlich des gesamten geltend gemachten Schadens in dem Mitgliedstaat klagen, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet.
Bei Klagen wegen Verleumdung im Internet sei der Ort, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen einer Gesellschaft befinde, wahrscheinlich der Ort, an dem ihr Ansehen durch die Verleumdung am stärksten beeinträchtigt worden sei.
Die Bolagsupplysningen OÜ ist eine Gesellschaft mit Sitz in Tallinn, Estland, die die meisten ihrer Geschäfte in Schweden tätigt. Sie wurde wegen „Täuschung und betrügerischer Handlungen“ in eine schwarze Liste auf der Website der Svensk Handel AB, einer schwedischen Handelsvereinigung, aufgenommen. Daraufhin wurden über tausend Kommentare gepostet. Die Gesellschaft ging in Estland gerichtlich gegen die schwedische Handelsvereinigung vor. Sie ersuchte das estnische Gericht, die Entfernung der Eintragung in der schwarzen Liste und der Kommentare auf der Website anzuordnen. Außerdem beantragte sie Schadensersatz in Höhe von 56.634,99 Euro wegen Geschäftsschädigung.
Im Rahmen eines beim Riigikohus (Oberster Gerichtshof, Estland) eingelegten Rechtsmittels stellt sich die Frage, ob die estnischen Gerichte nach dem Unionsrecht1 für die Entscheidung des Falls zuständig sind. Im weiteren Sinne lädt die Rechtssache den Gerichtshof dazu ein, Regeln hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit bei Beeinträchtigungen des Ansehens durch Veröffentlichungen im Internet aufzustellen.
Die allgemeine Regel für die internationale gerichtliche Zuständigkeit nach dem Unionsrecht lautet, dass der Beklagte an seinem Wohnsitz zu verklagen ist, im vorliegenden Fall in Schweden2. Die Bolagsupplysningen OÜ beruft sich jedoch auf eine Ausnahme von dieser Regel, nach der eine Klage in dem Mitgliedstaat erhoben werden kann, in dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht3. Es handelt sich dabei um eine besondere Zuständigkeitsregel.
Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit bereits festgestellt, dass in Fällen, in denen der Kläger eine natürliche Person ist, der Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht, der Staat ist, in dem sich der „Mittelpunkt der Interessen“ dieser Person befindet4. Die auf den Mittelpunkt der Interessen abstellende besondere Zuständigkeitsregel ermöglicht es einem Kläger, eine Klage wegen der in allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eingetretenen Schäden bei den Gerichten eines einzigen Mitgliedstaats zu erheben. Andernfalls müsste er bei den Gerichten aller in Betracht kommenden Mitgliedstaaten jeweils gesondert Klage erheben.
Die Bolagsupplysningen OÜ ersucht das estnische Gericht, die auf den Mittelpunkt der Interessen abstellende besondere Zuständigkeitsregel auf eine juristische Person anzuwenden. Sie macht dabei geltend, dass das Zentrum ihrer Interessen in Estland liege, auch wenn sie Geschäfte in Schweden tätige. Sie stützt dieses Vorbringen darauf, dass sich ihre für Management, wirtschaftliche Tätigkeiten, Rechnungsführung, Unternehmensentwicklung und Personal zuständigen Abteilungen in Estland befänden und ihre Gewinne von Schweden nach Estland transferiert würden.
In seinen Schlussanträgen vom 13.07.2017 vertritt Generalanwalt Michal Bobek die Ansicht, dass eine juristische Person, die behaupte, dass ihre Persönlichkeitsrechte durch Internetinhalte verletzt worden seien, vor den Gerichten des Mitgliedstaats klagen könne, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befinde, und zwar hinsichtlich des gesamten geltend gemachten Schadens.
Nach Auffassung des Generalanwalts können die Persönlichkeitsrechte juristischer Personen Schutz genießen. Wichtiger sei jedoch, dass der gute Ruf und das Ansehen juristischer Personen in den Mitgliedstaaten nicht nur als Grundrecht, sondern allgemein gesetzlich geschützt seien. Für „einfache“ Klagen wegen unerlaubter Handlung müsse es gleichwertige unionsrechtliche Zuständigkeitsregeln geben, die es ermöglichten, ein für die Entscheidung über einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens zuständiges Gericht zu bestimmen.
Der Generalanwalt ist ferner der Ansicht, dass es keinen vernünftigen Grund gebe, weshalb die Zuständigkeitsregeln, je nachdem, ob der Kläger eine natürliche oder eine juristische Person sei, unterschiedlich angewendet werden sollten. Einer solchen Unterscheidung würde die Annahme zugrunde liegen, dass eine natürliche Person gegenüber einem Beklagten, der eine juristische Person sei, die „schwächere Partei“ im Verfahren sei. Nach Auffassung des Generalanwalts hat sich dies jedoch durch das Internet, angesichts der Leichtigkeit, mit der natürliche Personen Angaben online veröffentlichen könnten, völlig verändert.
Was die besondere Zuständigkeitsregel für Klagen wegen Verleumdungen im Internet angeht, ist nach Ansicht des Generalanwalts der Ort des Schadenseintritts wahrscheinlich der Ort, an dem das Ansehen der betreffenden Person am stärksten beeinträchtigt worden sei. In Verleumdungsfällen sei dieser Ort der tatsächliche Mittelpunkt der Streitigkeit, der wiederum wahrscheinlich der Ort sei, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen dieser (natürlichen oder juristischen) Person befinde.
Bei der Bestimmung des Mittelpunkts der Interessen von juristischen Personen werden die relevanten Faktoren nach Ansicht des Generalanwalts in den hauptsächlichen gewerblichen oder sonstigen beruflichen Tätigkeiten zu sehen sein, die sich am genauesten auf der Grundlage des Umsatzes, der Zahl der Kunden oder anderer beruflicher Kontakte bestimmen ließen. Der Sitz der juristischen Person könne berücksichtigt werden. Erfolgten jedoch keine beruflichen Aktivitäten in diesem Mitgliedstaat und erziele die juristische Person dort keine Umsätze, so könne nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Mittelpunkt der Interessen dort befinde. Der Generalanwalt erkennt an, dass natürliche und juristische Personen mehr als einen Mittelpunkt der Interessen haben könnten; es sei jedoch Sache des Klägers, zu entscheiden, in welchem Mitgliedstaat er Klage erheben wolle. Habe er diese Entscheidung einmal getroffen, so könne er, solange die Rechtssache anhängig sei, nicht anderswo klagen.
Schließlich ist der Generalanwalt der Auffassung, dass das betreffende Gericht vollumfänglich zuständig sei und über den gesamten geltend gemachten Schaden und die zuzulassenden Rechtsbehelfe – einschließlich, wie im vorliegenden Fall, einer Anordnung zur Berichtigung und Entfernung der streitigen Angaben – entscheide.
Fußnoten
1 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung) (ABl. 2012, L 351, S. 1).
2 Art. 4 Abs. 1 der Brüsseler Verordnung.
3 Art. 7 Abs. 2 (in Kapitel II Abschnitt 2) der genannten Verordnung.
4 Urteil des Gerichtshofs vom 25. Oktober 2011, eDate Advertising u. a. (C-509/09).
Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 13.07.2017 zu den Schlussanträgen in der Rs. C-194/16 vom 13.07.2017